„Innerste Sicherheit“ – oder welche Gewalt ist gesellschaftspolitisch relevant?
Bärbel Heide Uhl
Am 1. Februar 2018 ist die Europaratskonvention gegen Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt in Deutschland in Kraft getreten. Damit ist erstmals ein völkerrechtliches Instrument gültig, welches nicht nur die Definition von häuslicher Gewalt und Gewalt gegen Frauen sehr breit auslegt, sondern auch in detaillierten Maßnahmen den staatlichen Schutzauftrag für die Betroffenen rechtsverbindlich formuliert.
Die Istanbul-Konvention setzt in ihrer Präambel ein weit gefasstes Verständnis von Gewalt fest. Gewalt kann nur verhindert werden, wenn eine „rechtliche und tatsächliche Gleichstellung von Frauen und Männern verwirklicht“ ist. Auch sieht sie häusliche Gewalt/Gewalt gegen Frauen als „Ausdruck historisch gewachsener ungleicher Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern“ und schreibt ihr zu, dass „Gewalt gegen Frauen einer der entscheidenden sozialen Mechanismen ist, durch den Frauen in eine untergeordnete Position gegenüber Männern gezwungen werden“.
Gewalt wird daher sowohl als Menschenrechtsverletzung als auch als Diskriminierung von Frauen verortet und folglich setzen die Maßnahmen gegen Gewalt in diesem Spektrum in dem Rechtsdokument auch an.
Die Maßnahmen gegen Gewalt sind ebenso detailliert wie umfassend formuliert. So sind sowohl der Bund, die Länder und die Kommunen in Deutschland verpflichtet, ausreichend Schutzstrukturen zu schaffen für Frauen und Kinder, die von Gewalt betroffen und/oder bedroht sind. Diese Strukturen müssen niederschwellig zugänglich und ausreichend vorhanden sein. Hilfsdienste für betroffene Frauen und Kinder sind in einer ihnen verständlichen Sprache anzubieten. Kinder haben ein Recht auf psycho-soziale Betreuung und ausgeübte oder angedrohte Gewalt des Vaters ist bei gerichtlichen oder behördlichen Entscheidungen zum Aufenthaltsbestimmungs- und Umgangsrecht zu berücksichtigen.
Dies sind nur einige Beispiele der rechtsgültigen Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt, die in der Istanbul-Konvention verbrieft sind.
Nicht nur in Brandenburg, sondern auch bundesweit sind wir jedoch meilenweit entfernt von der Umsetzung dieser Maßnahmen. Auch wenn das Bundesministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend (BMFSFJ) 2018 einen – leider unter Ausschluss der Zivilgesellschaft – Runden Tisch für einen Aktionsplan gegen Gewalt eingerichtet hat, ist bisher noch kein schlüssiger und umfassender Finanzierungsplan für Frauenhäuser und Fachberatungsstellen vorgelegt worden. Dabei ist die Bedrohung von Frauen und Kindern durch geschlechtsspezifische Gewalt täglich und allgegenwärtig: Das Bundeskriminalamt hat 2017 in seinem kriminalstatistischen Lagebild aufgeführt, dass 82,1 % der Opfer von Partnerschaftsgewalt Frauen und davon 364 Opfer von versuchten oder vollendeten Tötungsdelikten waren.
Geschlechtsbezogene Gewalt gegen Frauen ist nichts anderes als gruppenspezifische Hasskriminalität. Jedoch sucht man vergeblich nach Untersuchungsausschüssen und Task Forces, die an jeweiligen Landesministerien des Inneren angegliedert sind und sich gezielt der Verfolgung der Täter und dem Schutz der Opfer verschreiben.
Warum diese Gefährdung der innersten Sicherheit im öffentlichen Diskurs klein geredet wird als ‚Familientragödie‘ oder ‚Eifersuchtsdrama‘, ist angesichts des epidemischen Ausmaßes nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern vor allem ignorant gegenüber Menschenleben und Menschenwürde und somit auch internationalen Menschenrechtsverpflichtungen und dem Schutz einer inneren Sicherheit, die den Namen auch verdient: Eine inklusive Sicherheit, die alle Individuen überall schützt, auch im sozialen Nahbereich.
Vor einigen Jahren hat das renommierte Magazin New Yorker in dem Artikel „Der Terror beginnt zu Hause“ beschrieben, wie viele sogenannte Terrorattentäter und Amokläufer bereits vor den Massenmorden durch Strafrechtsdelikte von häuslicher Gewalt auffällig wurden.
Gewalt findet immer ihren Weg – wenn nicht gegen sie interveniert wird. Sie hört nicht einfach so oder von sich aus auf. Sie wird als gelerntes Verhaltensmuster transgenerationell weitergegeben und greift von (ex)-partnerschaftlichen Beziehungen in gesellschaftliche Räume über. Die Istanbul-Konvention bietet uns jetzt einen effektiven Rahmen, Gewalt langfristig einzudämmen und Betroffene zu schützen. Für die Umsetzung muss jedoch nicht nur die Zivilgesellschaft mit eingebunden, sondern es müssen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die dem Schutz der inneren und innersten Sicherheit angemessen sind und sich quantitativ an den Haushaltsplänen der Anti-Terror-Maßnahmen orientieren.