Die Angriffe auf die Istanbul-Konvention in der Tschechischen Republik: Wie können wir heute in Europa Frauenrechte verteidigen?
Michaela Marksová
Ministerin für Arbeit und Soziales der Tschechischen Republik, a. D.
Die Situation hinsichtlich des Umgangs mit der Istanbul-Konvention in der Tschechischen Republik stellt sich aktuell folgendermaßen dar: Die Konvention wurde gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert. Am 12. Mai 2016 hat der tschechische Botschafter seine Unterschrift im Europarat unter das Dokument gesetz, damit war die Tschechische Republik innerhalb der EU eines der letzten Länder, die das Dokument gezeichnet haben. Die Verzögerung geht u.a. darauf zurück, dass für die tscheschische Regierung bis dahin die Definition des Begriffs „Gender“ problematisch gewesen war, welches in der Konvention zu Beginn aufgeführt ist. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass allein schon die Benutzung des Wortes „Gender“ selbst ein großes Problem war.
Nach der Zeichnung der Konvention wollte man natürlich den Prozess der Ratifizierung voran bringen, bisher ist dies aber noch nicht sehr weit gediehen. In meiner Zeit als Ministerin stand die Konvention auch schon im Februar 2016 auf der Agenda einer Regierungsitzung. Während der Diskussion habe ich damals zum ersten Mal die Gegenargumente gehört, die wir bis heute von den Gegnern von der Konvention hören. Diese Argumente kamen damals von den Koalitionsministern aus der Christlich Demokratischen Partei, die sehr konservative Berater in Fragen von Familienpolitik und Frauenrechte hatten. Ich erinnere mich, dass ich vor der Sitzung die gesamte Konvention gelesen hatte und mir dabei nichts Negatives oder Ungewöhnliches aufgefallen war, vor allem auch im Vergleich mit anderen schon längst ratifizierten UN-Konventionen.
Die Argumente waren meist dahingehend, dass die Konvention eine „schädliche Gender-Ideologie einführt, sogar schon im Kindergarten“. Danach hat man über meinen Streit mit dem Kollegen in den Zeitungen geschrieben: „Marksová hat den Kollegen der Christlich Demokratischen Partei beschimpft. ´Wir haben keinen Dreier-Sex´, reagiert der Christlich Demokratische Minister“.
Damals hatte ich solche Argumente nicht ernst genommen, da sie zudem nur von einer kleinen Gruppe von Christdemokraten benuzt wurden, um die Aufmerksamkeit ihrer Wähler zu wecken bzw. Wählerstimmen zu erhalten. Mittlerweile mache ich aber die erschreckende Beobachtung, dass solche Argumentationen bezüglich der Instanbulkonvention zunehmend ganz bewußt als ein Instrument des so genannten Hybridkrieges oder Cyberkrieges/ cyberwar eingesetzt werden.
Intermezzo: Was ist eigentlich ein Hybrid-/ Cyberkrieg?
Laut Definition der deutschen Wikipedia ist ein Hybridkrieg „eine flexible Mischform der offen und verdeckt regulären und irregulären, symmetrischen und asymmetrischen, militärischen und nicht-militärischen Konfliktmittel mit dem Zweck, die Schwelle zwischen den angelegten binären Zuständen Krieg und Frieden zu verwischen“. Und „Der Begriff erfuhr seine allgemeine sprachliche Verbreitung im deutschsprachigen Raum in 2014 durch die Beschreibungen der militärischen Interventionen Russlands sowohl auf der Krim als auch im Osten der Ukraine.“
Andere Definitionen sprechen u.a. von „einer Form des Guerillakrieges, der sich moderner Technologien und Informations- sowie Werbemethoden“ bedient. Und Generalstabschef der russischen Streitkräfte Waleri Gerassimow, der schon als Vater des russischen Hybridkrieges bezeichnet wurde, lässt verlautbaren: „Die Rolle der nicht-militärischen Mittel beim Durchsetzen von politischen und strategischen Zielen ist gewachsen; in einigen Fällen ist ihre Durchschlagskraft deutlich höher als die von Waffen“.
Auch in 2016 diagnostizierten Geostrategen auf einem NATO-Gipfel, dass die neuen Konflikte „nicht mehr nur von Waffenstärke, sondern auch von […] sozialen Techniken zur Spaltung von Gesellschaften bestimmt“ werden.
Ich will hier nicht über die militärischen Formen von Krieg sprechen, sondern über die Kräfte, die moderne Technologien für Desinformations- und Propaganda-Kampagnen verwenden, um Gesellschaften zu spalten.
Meiner Meinung nach ist der aktuelle Kampf um den Brexit ein gutes Beispiel für einen solchen Krieg und zeigt anschaulich dessen Konsequenzen und die Verwirrungen, die damit ausgelöst werden. Später hat sich herausgestellt, dass während des Brexit-Referendum viel Geld aus Rußland in Richtung der Pro-Brexit-Seite geflossen ist, die Seite, die aufgrund vieler Lügen gewonnen hat. Lügen, die auch gegen die EU genutzt wurden, hauptsächlich um Angst zu schüren – übrigens sehr typisch für solche Prozesse. Andere Desinformationskampagnien haben beispielsweise rechtsextremistische Parteien in Frankreich vor den Wahlen unterstüzt oder die Präsidentschaftswahlen in den Vereinigten Staaten in 2016 beeinflusst.
Diese Beispiele bestägigen die Definition, dass „Hybridkrieg eine große Strategie ist, die auf Destabilisierung von existierendem liberalen Ordnung zielt“.
Ich weiß nicht, inwieweit in Deutschland dieser Hybrid-/ Cyberkrieg spürbar ist, aber soweit ich weiss, werden auch in Deutschland Desinformations-Webseiten, die mit rusischem Geld finanziert werden, dazu genutzt, den Rechtsextremismus in Deutschland zu unterstützen. In der Tschechischen Republik ist dieser politische Kampf offensichtlich und erwiesen, und das nicht nur kurz vor den Wahlen.
Sogar der tschechische Sicherheitdienst beschreibt dieses Phänomen in den öffentlichen Teilen seines Jahresberichtes und warnt vor den permanenten und vehementen Versuchen des russischen und des chinesen Sicherheitsdienstes, unsere Politik und Gesellschaft zu beeinflussen.
Die falschen oder halbwahren Informationen werden durch Desinformations-Webseiten und durch unzählige falsche Profile in den sozialen Netzwerken, z.B. auf Facebook in Umlauf gebracht (die so genannten russischen Trolle, weil sie mit russischen Geld finanziert sind), oder auch durch so genannte Ketten-E-Mails, die bei uns vor allem bei den Senioren beliebt sind und die falsche, alarmierende Informationen verbreiten, in denen die Texte mit großen und roten Buchstaben gespickt sind. Die Inhalte sind immer dieselben und sollen Angst bei den Menschen hervorrufen: Migranten, die angeblich europäische Länder angreifen und Frauen und Mädchen massenhaft vergewaltigen, es geht aber auch um verschiedene gesellschaftliche Änderungen, wie z.B. die Einführung von mehr als zwei Geschlechtern, Adoption von Kindern durch homosexuellen Paare usw. Hinzu kommt der Kampf gegen NGOs, die Migranten helfen oder die „schädliche Gender-Ideologie“ verbreiten – Angriffe, die sich letztlich gegen die gesamte Zivilgesellschaft richten.
Und hier findet nun auch eine Instrumentalisierung der Istanbul-Konvention statt. Die Leute, die bewusste Fehlinformationen verbreiten, gehören zu rechtsextremen Gruppierungen oder sehr konservativen Kreisen in der katholischen Kirche, deren Vokabular vom Nationalstolz über nationale Traditionen und die böse EU, die in dem Kontext gern auch mit dem Nazi-Deutschland verglichen wird, reicht. Und durch die Nutzung des digitalen Mediums wird die Sprache in der Diskussion zunehmend aggressiver.
Die Instanbul-Konvention und die „traditionelle Familie“ als eine der Waffen des Hybridkrieges
Im Oktober 2019 hat Magda Vašáryová, ehemals tschechoslowakische Schauspielerin und nach 1989 aktive Politikerin, Aktivistin, Botschafterin der Slowakei in Polen und Präsidentschaftskandidatin, ein Interview gegeben. Sie spricht darüber, wie das Thema der „traditionellen Familie“ im Hybridkrieg mehr und mehr missbraucht wird. Und damit beginnt der Kampf gegen Frauenrechte und den Feminismus.
Wie ich vorhin bereits erwähnt habe, ist das Ziel in diesem Krieg, die liberale Demokratie zu destabilisieren. Das beinhaltet u.a., dass die Gräben, die zwischen verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft ohnehin bereits existieren, vertieft werden; denn eine Gesellschaft, die in ihrem Inneren tief gespalten ist, kann viel einfacher und effizienter angegriffen, durch extremistische Ideologien beeinflusst und somit stark geschwächt werden. Darüber hinaus ist die systematische Beschädigung der Zivilgeselschaft und der NGOs eine wichtige Strategie im Vorgehen der antidemokratischen Kräfte. Und hier hilft die „traditionelle Familie“: Obwohl wir, die wir hier heute sitzen, wissen, dass das Bild der traditionellen Familie ein Mythus ist, bedeutet das Hinterfragen dieses Bildes für viele Menschen, die sich von „zu viel“ Freiheit und Demokratie bedroht fühlen, ein positiv besetztes Symbol für Halt und Sicherheit. Und natürlich ist es auch für zahlreiche Menschen, vor allem für Männer, viel bequemer, in althergebrachten Rollenklischees von Männern und Frauen zu verharren.
In diesem Zusammenhang möchte ich eine kürzlich durchgeführte Studie nicht unerwähnt lassen: Im Oktober 2019 wurden die Resultate einer Meinungsumfrage in der Tschechischen Republik veröffentlicht. Eines der Ergebnisse belegt, dass 18 % der befragten Frauen unter bestimmten Umständen eine autoritäre Regierung wählen würden, die Prozentzahl bei den Männern lag bei 28 %.
Und genau hier wird die Istanbul-Konvention missbraucht: die, die es benutzen, lügen natürlich über den Inhalt. Die meisten Lügen sind, dass die Konvention:
- so genannte „Gender-Ideologie“ einführt (die Familie sei nicht mehr Mutter, Vater und Kindern, aber wer-weiss-wer);
- Familienrecht beeinflusst (dass die Väter beschädigt werden);
- über sexuelle Minderheiten spricht (die Kinder müssen obligatorisch schon im Kindergarten lernen, dass sie das Geschlecht wählen können und sind mit den Ideen über mehrehre Geschlechte indoktriniert);
- automatisches Asylrecht für alle Frauen, die Asyl beantragen, garantiert.
Die katholische Kirche, die ansonsten in der Tschechischen Republik kaum Einfluss hat, spielt hier interessanterweise eine sehr wichtige negative Rolle im Kampf gegen die Konvention. Eine Petition gegen die Ratifizierung wurde aktiv in den Kirchen verbreitet. In einer Predigt, die auf Youtube zu sehen und hören ist, hat ein tschechischer katholischer Pfarrer über die Konvention gesagt: „Ihre Kinder werden Ihnen weggenommen und zu homosexuellen Paaren gegeben werden und Sie selbst werden in Konzentrationslagern eingesperrt werden“. Und im Oktober hingen an mehreren Plätzen in Prag Plakate, auf denen ein Gesicht von einem weinenden Mädchen zu sehen war und die betitelt waren mit: „Wir lehnen die Ratifizierung ab, weil die Konvention ungerecht zu Männern ist“, „weil sie eine Gefährdung für die Kindererziehung darstellt“, „weil sie die Beziehungen in der Arbeit und zu Hause zerstört und eine unmenschliche (ja, wirklich, dieses Wort wird dort benutzt) Gender-Ideologie verdeckt“. Als Autorenschaft ist dort eine Organisaton aufgeführt, die sich „Traditionelle Familie“ nennt, die allerdings in der Tschechischen Republick unbekannt ist.
Ähnlich stellt sich die Situation hinsichtlich der Istanbul-Konvention übrigens auch in Polen, Bulgarien und anderen Ländern in Mittel- und Osteuropa dar.
Wie sollen wir heute in Mitteleuropa Frauenrechte verteidigen?
Ich denke, dass diese Frage schwer zu beantworten ist. Das größte Problem sehe ich darin, dass die Gegner der Frauenrechte, die den Hybridkrieg führen, über immens große Finanzquellen verfügen. (Hierzu hat beispielsweise eine Journalistin aus Finnland recherchiert, wie die so gennanten Trollfarmen arbeiten und wie weitverzweigt und gut organisiert sie sind) . Ich denke, dass zuerst einmal diese Hybridgefahr erkannt und benannt werden muss, und dies nicht nur auf der Ebene individueller Staaten, die davon betroffen sind, sondern mindestens auf der EU-Ebene. Staaten müssen gemeinsam Strategien zu ihrem Schutz und zu ihrer Verteidigung erarbeiten. (Soweit mir bekannt ist, haben Finnland und Estland bereits erste Vorkehrungen getroffen). Ein Problem liegt natürlich darin, dass einige Parteien durch den Hybridkrieg profitieren, wie z.B. die rechtextremen Parteien, die inzwischen in vielen Staaten bereits in den Parlamenten sitzen … und die werden ein gemeinsames Vorgehen diesbezüglich nicht zulassen.
Die Frauenorganisationen sollten sich meiner Meinung nach viel mehr auf öffentliche Kampangenen konzentrieren, und zwar unbedingt mithilfe professioneller Öffentlichkeitsarbeitenden. Warum? Jetzt sage ich etwas, was vielleicht zunächst nicht so ganz politisch-korrekt erscheint, was aber letztlich erfolgsversprechender ist: Gegenstand solcher Öffentlichkeitskampagnen müssen Themen sein, die eine große Anzahl von Frauen und Familien betreffen, also Themen der (weiblichen) Mehrheitsgesellschaft. Minderheitsthemen nämlich werden erfahrungsgemäß von den Gegnern dankbar aufgenommen und gegen die Rechte von Frauen instrumentalisiert und missbraucht. Beispielsweise wird zurzeit sehr viel über Toiletten für das dritte Geschlecht polemisiert oder jetzt ganz aktuell über die Firma Always (Damenbinden), die das weibliche Zeichen von den Verpackungen entfernt hat, nachdem Aktivist*innen darauf hingewiesen haben, dass nicht alle Menschen, die menstruieren, Frauen sind. Nicht selten werden Nachrichten über die Belange von Minderheiten – ursprünglich als kleine Mitteilungen „am Rande“ gedacht – in den tschechischen Medien ganz groß aufgezogen, die damit suggerieren, dass die „alten“ demokratischen Länder keine andere Probleme hätten als beispielsweise Damenbinden.
Des Weiteren sollten Kinder von Anfang an und selbstverständlich zu Respekt und Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern erzogen werden, auch um der Tatsache entgegenzuwirken, dass Erziehung zu Gender und Gleichberechtigung immer noch eine der Dinge ist, die fast pernament und bei jeglichen Themen zu allererst attackiert wird.
Zu guter Letzt: Insgesamt müssen sich die demokratischen Kräfte vereinigen, ohne Zusammenschluss werden wir nicht erfolgreich sein. Wir müssen auch den demokratischen Vertreter_innen (Politiker_innen und Mainstream-Medien) deutlich machen, dass Attacken auf Frauenrechte bedeuten, dass früher oder später die gesamte Demokratie und attackiert und beschädigt werden wird. Dies wurde uns auch mit der Tat in Halle im Oktober 2019 offenkundig vor Augen geführt, bei der der Mörder aus dem rechtsextremistischen Milieu nach dem Attentat in der Nähe des jüdischen Gotteshauses unverzüglich, und noch bevor er in seinen Hasstiraden die Juden als die Wurzel aller Probleme beschimpft, zuerst den Feminismus zum Feind erklärt.
Michaela Marksova hielt diesen Vortrag im Rahmen der Vortrags – und Vernetzungsreihe „Istanbul goes Brandenburg“ des NbF e.V. in Potsdam am 26.10.2019